Das Gefühl verstreichender Zeit

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß Ihr inneres Zeitgefühl sich dramatisch verlangsamt, wenn Sie an einem Ihnen unbekannten Ort irgend etwas Abenteuerliches erleben?

Reisen Sie nur einmal für eine Woche in eine Ihnen unbekannte Stadt im Ausland und tun Sie dort viele verschiedene Dinge. Wenn Sie dann nach Hause kommen, werden Sie das Gefühl haben, länger als eine Woche fort gewesen zu sein. Ein Tag kann so lang erscheinen wie eine Woche und eine Woche so lang wie ein Monat, so viel haben Sie erlebt und solchen Spaß haben Sie dabei gehabt.

Etwas Ähnliches kann Ihnen passieren, wenn Sie eine Woche lang in der Wildnis zelten gehen. Jede Erfahrung, die Sie dort machen, ist neu.
Es geht zwar nicht um das Bestaunen von „Sehenswürdigkeiten“, doch alles, was Sie sehen, ist neu für Sie. Darum ist die Häufigkeit dessen, was wir für bemerkenswerte Momente halten, höher als bei uns zu Hause.
Und natürlich gibt es hier in der Wildnis nicht so viele der üblichen Ablenkungen. Inzwischen haben die Leute, die zu Hause geblieben sind, eine mehr oder weniger gewöhnliche Woche erlebt, die für sie wie im Flug verging. Für sie sieht es also so aus, als seien Sie kaum losgefahren und schon wieder da.
Nach Ray Kurzweil, einem Computerspezialisten und Erfinder von Hilfsgeräten für Menschen mit sensorischen Behinderungen, kalibrieren wir unser inneres, subjektives Gefühl verstreichender Zeit nach den Intervallen zwischen dem, was für uns „Meilensteine“ oder bemerkenswerte Ereignisse sind, und dem „Ausmaß an Chaos“ im System. Er nennt dies das Gesetz von Zeit und Chaos. Wenn die Ordnung abnimmt und das Maß an Chaos (die Häufigkeit ungeordneter Ereignisse innerhalb eines Prozesses) in einem System zunimmt, dann verlangsamt sich die Zeit (die Zeit zwischen bedeutsamen Ereignissen). Und wenn in einem System die Ordnung zunimmt und das Chaos abnimmt, dann beschleunigt sich die Zeit (die Zeit zwischen bedeutsamen Ereignissen).
Dieser Zusammenhang, den er das „Gesetz des sich beschleunigenden Gewinns“ nennt, beschreibt evolutionäre Prozesse wie die Evolution von Spezies, aber auch von Technologien oder der Kapazität von Rechnern.

Babys und Kleinkinder erleben in den ersten prägenden Jahren sehr viele Meilenstein-Ereignisse, und im Laufe der Zeit nimmt die Häufigkeit solcher Ereignisse ab, auch wenn das Maß an Chaos im System (zum Beispiel unvorhersehbare Ereignisse im Leben) zunimmt. Das Intervall zwischen Meilenstein-Ereignissen ist kurz, und deshalb ist die gefühlte Erfahrung der Kindheit eine Erfahrung von Zeitlosigkeit oder einer sehr langsam verstreichenden Zeit. Wir sind der Zeit kaum gewahr, so sehr sind wir im gegenwärtigen Augenblick. Wenn wir älter werden, scheinen die Intervalle (Zeit) zwischen bemerkenswerten evolutionären Meilensteinen immer länger zu werden, und der gegenwärtige Augenblick scheint uns oft leer und unerfüllend zu sein – es ist immer dasselbe.
Subjektiv fühlt sich das so an, als beschleunige sich die Zeit, wenn wir älter werden, weil unser Bezugsrahmen länger wird.
Wenn man also das innere Gefühl, daß unser Leben verstreicht – und vielleicht an uns vorübergeht -, verlangsamen will, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine besteht darin, unser Leben mit so vielen neuen Erfahrungen, die hoffentlich „Meilensteine“ darstellen, anzufüllen wie nur möglich. Viele Menschen sind nach diesem Lebensstil geradezu süchtig. Sie sind ständig auf der Suche nach dem nächsten Kick, der dem Leben Sinn verleiht, sei es die große Reise in exotische Länder, Extrentsport oder der nächste Besuch in einem Feinschmecker-Restaurant, Der andere Weg besteht darin, mehr aus unseren gewöhnlichen Momenten zu machen, so daß sie schon dadurch zu bemerkenswerten Momenten werden, daß wir sie überhaupt bemerken. Dies reduziert zudem das Chaos und vergrößert die Ordnung im Geist, Die keine Momente können zu wahrhaften Meilensteinen werden. Wenn Sie wiklich für Ihre Augenblicke präsent sind, während diese sich entfalten dann entdecken Sie, ganz gleich, was geschieht, daß jeder Augenblick einzigartig und neu und deshalb ein großartiges Ereignis ist. Ihre Erfahrung von Zeit würde sich verlangsamen. Es könnte sogar sein, daß Sie ganz aus der subjektiven Erfahrung verstreichender Zeit heraustreten, indem Sie sich für die zeitlose Qualität des gegenwärtigen Augenblicks öffnen. Da Ihnen in Ihrem Leben noch eine astronomisch große Zahl an Momenten verbleibt, egal wie alt Sie sind, wird Ihr Leben um so lebendiger, je mehr Sie für diese Augenblicke da sind. Je reicher die Momente selbst und je kürzer das Intervall zwischen ihnen, desto langsamer verstreicht die Zeit vom Standpunkt Ihrer persönlichen Erfahrung und desto „länger“ wird Ihr Leben.

Was nun die Erfahrung des Verstreichens von Zeit angeht, so kann Achtsamkeit uns unsere Augenblicke zurückgeben, indem sie uns daran erinnert, daß es möglich und sogar wertvoll ist, bei ihnen zu verweilen, sich in ihnen einzurichten, sie mit all unseren Sinnen zu fühlen und in Gewahrsein um sie zu wissen. Dieses Gewahrsein, so könnten wir sagen, ist von der Erfahrung her außerhalb der Zeit, im ewigen Jetzt, in der Gegenwart. Augenblicke, die wir in stiller Wachheit verbringen, ohne daß irgend etwas als nächstes geschehen muß, mit keiner anderen Absicht als der, lebendig und wach genug zu sein, um das Leben so, wie es in diesem Augenblick ist, schätzen zu können, können uns wieder jenes so lebenswichtige Gleichgewicht und jene Klarheit schenken, die fast immer von der Turbulenz und Hartnäckigkeit unserer inneren und äußeren Neigungen untergraben werden.
Auf diese Weise verlangsamt Achtsamkeit das Gefühl verstreichender Zeit oder bringt es für eine Weile sogar ganz zum Stillstand. Gleichzeitig finden wir durch Achtsamkeit eine neue Art, das, was in der äußeren Landschaft geschieht, und unsere Reaktion darauf genauer wahrzunehmen und zu untersuchen. So erlangen wir durch die Vorgänge im Bereich von Technologie, Gesellschaft und Politik auch ein neues Verständnis unserer Verletzlichkeit und unserer Verstrickung in jene Vorgänge. Und was die innere Landschaft betrifft, können wir durch Achtsamkeit über die emotionalen Reaktionen und Muster, die uns so viel Unglücklichsein und ein Gefühl der Verzweiflung und Einsamkeit bescheren, hinaussehen. Wir bekommen die Chance, mit dem Mysterium der gleichzeitigen Leere und Fülle der Zeit und des Verstreichens von Zeit zu arbeiten.

aus „Zur Besinnung kommen“ von Jon Kabat-Zinn, 1. Auflage 2016, Arbor Verlag, S.167 ff.